Die Buchreihe

Die Bücher

Special Edition Band 1

Als der 14-jährige Eric Rüster mit seiner Mutter und seinen beiden Brüdern wieder einmal umzieht, ahnt er noch nicht, dass dies sein Leben für immer verändern wird. Mit der Frage nach seiner Bestimmung betritt er einen Weg, der von Freundschaft, Vorurteilen, Geheimnissen und Magie geprägt ist.

„Die Suche nach deiner Bestimmung wird immer eine Suche nach deinen Wurzeln sein“, sprach die alte Eibe mit ihren flüsternden Blättern und Eric erwachte…

Der Feuerrabe – Band 1. Für Kinder und Jugendliche und alle, die eine große Liebe zu Bäumen und unserer Umwelt haben. Für Liebhaber von einer Fülle an nie dagewesenen magischen Wesen, die um uns herumschleichen. Seid ihr bereit?

Special Edition Band 2

Für Eric, seine Brüder und seine beiden besten Freunde Mona und David beginnt ein neues Schuljahr in Balderwald. Die Ereignisse des letzten Sommers stecken den Freunden noch tief in den Knochen. Doch dies war erst der Anfang; mysteriöse Rätsel und neue Fragen tun sich auf: Was hat es mit den seltsamen Plakaten auf sich, die plötzlich überall in Balderwald erscheinen? Was plant Bruto mit dem zwielichtigen fremden Forscher, der immer häufiger in ihrer Schule auftaucht?

Aufregende und aufwühlende Zeiten stehen Eric und den Freunden bevor, soviel sei gewiss! Magische und sagenumwobene Orte locken, und die alten Ruinen erwachen zu neuem Leben. Können sie die großen Gefahren bezwingen, die im Schatten der Nacht lauern?

David saß da, mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen.

»Ein Lindwurm?«, keuchte er.

Eric verstand seine Aufregung nicht. Lindwurm klang doch ganz niedlich. Er stellte sich einen kleinen Regenwurm vor, der mit einem winzigen Helm und Speer bewaffnet vor der Silberblume Wache hielt.

»Was genau ist ein Lindwurm?«, fragte Mona vorsichtig.

»Ein Drache, verdammt«, krächzte David.

Die Legende über eine sagenumwobene Silberblume versetzt ganz Balderwald in Aufregung.
Natürlich schließen sich auch Eric und seine Freunde den Schatzsuchern an.
Doch was als spaßiger Zeitvertreib beginnt, entwickelt sich zu einem erbitterten Kampf um Leben und Tod.
Dabei soll die Zeit nicht ihr größter Feind bleiben.

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Balderwald

Die magische Stadt Balderwald liegt seit nunmehr 1300 Jahren im Verborgenen. Eingebettet zwischen hohen Bergen und undurchdringlichen Wäldern können sie nur jene finden, die das Blut der Waldmagier in sich tragen. Nur so viel kann verraten werden: Sie liegt irgendwo in Deutschland versteckt, geschützt durch Banne und Magie.

In dieser Stadt ist so manches anders und besonders: Magische Wesen schleichen umher. Die Magie der Waldmagier wird in der Schule – dem Balder-Institut für Forschung und Magie – gelehrt. Eine uralte Freundschaft zwischen den Waldmagiern und den Bäumen bringt so manche Vorteile für beide Seiten mit sich. Denn Bäume werden in Balderwald verehrt und beschützt. So dürfen die großen, weisen Riesen weder gefällt, noch verletzt werden. Unterirdische Gänge ziehen sich wie ein Spinnnetz unter der Stadt.

Taucht ein in die Welt von Balderwald und lasst euch verzaubern.

Magische Wesen

Strumpfla sind kleine, ein bis drei Zentimeter große Wesen, die in Hohlräumen von Waschmaschinen leben. Sie ernähren sich von Socken, die sie beim Waschgang aus den Maschinen entwenden. Wie genau ihnen das gelingt, ist nicht bekannt. Strumpfla-Familien mit Vater, Mutter und zwei Kindern benötigen durchschnittlich zwei Socken pro Monat. Großfamilien vertilgen durchschnittlich eine Socke pro Woche, wobei vermutet wird, dass die politische Neigung der Strumpfla-Familie bestimmt, ob rechte oder linke Socken gefressen werden. Strumpfla kommen auf der ganzen Welt vor.

Im lateinischen auch Amnesius genannt, sind quallenartige Wesen, die unsichtbar sind. Sie werden nur durch spezielle Offenbarungsbrillen sichtbar. Forgetlinge ernähren sich von Gedankenströmen. Sie sind meist dafür verantwortlich, dass ein Mensch mitten im Gedankengang den Faden verliert. Zudem lauern sie gerne an Türschwellen und sind somit für das Phänomen zuständig, dass eine Person vergisst, was sie in einem bestimmten Raum wollte, sobald sie diesen betreten hat. Forgetlinge halten sich hauptsächlich drinnen auf. Sie sind wasserscheu und erstarren im Dunkeln. Dies können Erklärungen für Erinnerungen und Gedankenblitze sein, die sowohl beim Duschen und Baden, als auch in der Dunkelheit, vor dem Einschlafen aufkommen. Forgetlinge kommen auf der ganzen Welt vor.

Die Streitigall ist eine magische Vogelart. Sie ist eine Verwandte der Nachtigall. Ihr Gesang ist meistens in den Abend- und Nachtstunden zu hören. Durch den Gesang, der für die meisten Menschen kaum oder gar nicht hörbar ist, wird in den Menschen ein Gefühl von Streitlust und Aggressivität ausgelöst. Dadurch kommt es an den Orten, wo die Streitigall gerade singt, vermehrt zu Ärger und Zwist. Vor den Schlachten der magischen Kriege wurden Streitigalle schon Mitte des letzten Jahrtausends in der Nähe der Krieger positioniert, um deren Kampfbereitschaft zu steigern. Bei Vollmond findet der Paarungsgesang der Streitigall-Männchen statt. Das hat über die Jahrhunderte dazu geführt, dass die dabei entstandene, erhöhte Streitlust fälschlicher Weise auf den Vollmond zurückgeführt worden ist, jedoch nicht auf den Gesang der Streitigall. Eine bewährte Methode, den Gesang zu neutralisieren, besteht darin, sich eine halbe Minute lang die Worte „Friede, Freude, Eierkuchen“ aufzusagen.« Die Streitigall kommt auf der ganzen Welt vor.

Brennslis sind kleine Wesen, die Schuld daran tragen, dass man sich an Herd, Bügeleisen, Backofen verbrennt. Sie sind unsichtbar und drücken die Hand der Person um Millimeter gegen die heißen Gegenstände. Dies geschieht so schnell, dass man es auf sein eigenes Ungeschick führt. Brennslis sind die Ableger von Feuerdämonen und ernähren sich von Feuer und Hitze. Die Anwesenheit eines Brennsli lässt sich nur durch einen Spiegel erkennen, in dessen Spiegelbild sie sichtbar werden: Als 1 cm kleine, kugelförmige, orangene Wesen mit großen Zähnen und gemeinen Augen. Verscheuchen lassen sie sich am effektivsten durch den Gesang von Shantys, Schlagern oder anderen volksbelustigenden Liedern. Brennslis kommen auf der ganzen Welt vor.

Ein Kuddelmuddel ist ein magisches Wesen, das bevorzugt in Damenhandtaschen wohnt. Hier findet es alles, was es zum Leben braucht. Es ernährt sich dort von Krümeln und Fusseln. Kuddelmuddel können sich als Gegenstände tarnen, die sich in den Taschen befinden. Um unentdeckt zu bleiben, stiften sie ein heilloses Durcheinander in ihrer Wohnung – also den Handtaschen. Mögen sie einen Gegenstand nicht, kommt es vor, dass sie diesen unbemerkt hinauswerfen. Besonders beliebte Gegenstände lassen sie gerne hinter dem Innenfutter einer Tasche verschwinden, in welches sie kleine Löcher knabbern. Die Größe eines Kuddelmuddels kann je nach Gegenstand von einer Haselnuss bis zu einem kleinen Apfel variieren. Nur sehr selten wurde ein Kuddelmuddel unverwandelt gesehen. Augenzeugen bezeichnen ihn als dunkelblaues, rundes und recht flauschiges Wesen, das große violette Kulleraugen, fünf Beinchen und einen kleinen Schwanz haben soll. Dabei habe es meist die Größe von einer Pflaume. Kuddelmuddel kommen auf der ganzen Welt vor.

Das ist eine kleine Auswahl der magischen Wesen aus dem Feuerraben. Viele Weitere schleichen sich durch die Geschichte.

Habt ihr die schon alle entdeckt?

Leseproben - Copyright by Vera Reh

Kapitel 1 – Der Umzug

Eric sah aus dem Autofenster des alten Kombis, um einen letzten Blick auf Bremen zu erhaschen. Dies sollte der letzte Tag seines bisherigen Lebens sein. Er ahnte noch nichts von den großen Veränderungen, die da unaufhaltsam auf ihn zukamen. Die Nachmittagssonne war durch den Nieselregen, der schon seit Tagen anhielt, nicht zu sehen. Es war der vierte Umzug innerhalb von sechs Jahren. Eric dachte zurück an das letzte Jahr. Seine Mitschüler in Bremen waren schon ganz in Ordnung, aber wirklich vermissen würde er sie wohl nicht.

Sein Bruder Franky zog eine mürrische Miene, er hatte das ganze Kistenpacken und Umziehen gehörig satt, was er seit Tagen auch wieder und wieder in allen möglichen Versionen zum Ausdruck gebracht hatte: Von Brüllen über Schmollen bis hin zu Sarkasmus war alles dabei.

 »Wie heißt dieses Kaff nochmal, in dem du uns zwingst zu wohnen?«, blaffte Franky gerade seine Mutter vom Rücksitz aus an.

 »Balderwald, mein Schatz. Und als Kaff kann man es nicht gerade bezeichnen.«

 »Ach nein?«, meldete sich Erics älterer Bruder William vom Beifahrersitz, »Und wie kommt es dann, dass im Internet überhaupt keine richtige Seite, geschweige denn irgendeine Angabe existiert, warum man um diese Stadt nicht einen großen Bogen machen sollte? Da scheint es nicht mal einen Supermarkt und erst recht kein Stadtzentrum zu geben!«

 »Jungs, ich bin in Balderwald aufgewachsen und obwohl ich schon seit zwanzig Jahren nicht mehr dort war, bin ich mir ganz sicher, dass es euch gefallen wird. Nur weil die Stadt keine, nun ja, allzu gute Präsenz im Netz hat – die Stadtältesten haben ihre Gründe dafür – bedeutet es noch nicht, dass … ach ihr werdet sehen. Es gibt sogar eine Universität!«

 »Eine Universitätsstadt, die nicht im Internet steht? Sorry Mama, aber so was ist echt nicht möglich. Außerdem kann sich in zwei Jahrzehnten eine Menge verändern«, erwiderte William und schüttelte mit hochgezogenen Augenbrauen den Kopf, um sich gleich danach seine blonden Haare nach hinten zu streichen.

 »Nun, es ist so etwas wie eine Privatuniversität, nur für sehr spezielle Menschen, also für, naja … für Menschen wie deinen Großvater zum Beispiel, Menschen mit gewissen Begabungen eben. Hört mal, Jungs, euer Großvater hat uns dieses Haus vererbt. Ihr wisst genau, dass wir knapp bei Kasse sind …«

 »Wann waren wir jemals nicht knapp bei Kasse?«, giftete Franky von der Rückbank und trat sachte mit seinen Füßen gelangweilt und mürrisch gegen den Fahrersitz.

 »Franky …«, setzte Erics Mutter an, doch Franky fiel ihr ins Wort.

 »Ja ist doch wahr. Seit Papa tot ist, sind wir pleite. In den letzten Jahren sind wir auch noch ständig am Umziehen, die Wohnungen werden immer kleiner, deine Jobs bringen auch nicht wirklich Kohle, geschweige denn einen festen Wohnsitz, zumindest fester als für zwei Jahre.«

 »Und genau das soll sich jetzt ändern. Es ist ein wirklich schönes und großes Haus, eine Villa, kann man schon fast sagen. Es wird euch gefallen«, antwortete die Mutter.

 »Andere Familien fahren im August in den Urlaub und wir ziehen um, das ist doch echt sowas von ätzend. Nicht mal unsere Möbel können wir mitnehmen, nur aus ein paar Kisten und aus Koffern leben? Das ist doch irre«, motzte Franky.

 »Der Anwalt eures Großvaters hat mir diesen Brief geschickt, der uns berechtigt, in dem Haus zu leben. Es ist voll möbliert, ihr werdet alle ein eigenes Zimmer haben. Habt ihr gehört? Ein eigenes Zimmer für jeden von uns! Geld hat er uns auch vererbt, es gibt sogar die gute Chance einer Festanstellung in einer Bäckerei für mich, hört ihr, Jungs? Eine Festanstellung, kein Jahresvertrag wie sonst immer. Und das Beste, ihr dürft dort sogar die Schule besuchen, weil ihr, tja, weil ihr eben die Enkel eures Großvaters seid. Das vierzehnte Lebensjahr habt ihr auch beendet, und somit besteht die Chance, dass auch ihr diese Fähigkeiten besitzt.« Das Wort Fähigkeiten sagte sie leise und unauffällig.

 »Wir dürfen zur Schule? Mann, das ist wirklich das Beste. Das Beste vom Besten. Sowas von best«, sagte Franky voller Zynismus in seiner Stimme von der Rückbank nach vorne zu seiner Mutter.

Eric meldete sich zum ersten Mal, seit sie ihr altes Zuhause hinter sich gelassen hatten, zu Wort.

 »Was denn für Fähigkeiten, Mama? Und warum sagst du, dass wir die Berechtigung haben, dort zur Schule zu gehen? Es herrscht doch Schulpflicht!« Seine Brüder nickten und blickten ihre Mutter herausfordernd an.

 »Es … es ist eben eher so etwas wie eine Privatschule. Also, das Konzept ist ein wenig anders als in gewöhnlichen Schulen. Sie sind dort sehr, ähm … nun, sagen wir mal naturverbunden. Ja. Mit dem Hang zum Spirituellen, könnte man sagen.«

 »Das ist jetzt nicht dein ERNST, du SCHICKST UNS in ’ne verdammte Hippie–Öko–SEKTEN, oder was weiß ich nicht, SCHULE für SPINNER?«, rief Franky von der Rückbank, baute sich im Sitz auf und ballte die Hände zu Fäusten.

 »Von was für Fähigkeiten hast du gesprochen?«, fragte Eric ruhig und unbeeindruckt von seinem Bruder Franky, der jetzt neben ihm den halben Wagen einzunehmen schien und dabei vor Wut laut schnaubte.

Auch Nora schien ihren Sohn hinter sich erst einmal besser zu ignorieren und antwortete stattdessen Eric: »Nun ja, Fähigkeiten eben, besondere Eigenschaften, die in unserer Familie und in den Familien der in Balderwald lebenden Mag …«, sie brach ab, hielt einen Moment inne, als würde sie sich neu sammeln und sagte: »Also ab einem Alter von vierzehn Jahren können diese Fähigkeiten sichtbar werden, sofern sie vorhanden sind. Darum ist nun der richtige Zeitpunkt für euch, also für uns … zudem fängt in ein paar Tagen das neue Schuljahr an, somit ist der Zeitpunkt perfekt«, fügte sie hinzu.

 »Aber hast du diese Fähigkeiten? Oder hatte Papa sie denn? Und wieso hören wir zum ersten Mal davon? Und was für Fähigkeiten sollen das überhaupt genau sein?«, sprudelte es aus William.

 »Nein, euer Vater und ich haben sie beide nicht, sie überspringen immer eine Generation. Euer Vater wusste auch nichts von diesen bestimmten Genen, ich hielt es für besser, es ihm nicht zu sagen, bevor ihr, nun, bevor sie überhaupt sichtbar werden können bei euch. Und da euer Vater schon vor neun Jahren gestorben ist …«, sie beendete den Satz nicht und ihre Stimme klang bei den letzten Worten traurig.

 »Aber was für Fähigkeiten sind es denn nun?« fragte Eric erneut.

 »Das ist bei jedem anders«, sagte sie schlicht.

 »Anders? Wie anders?«, fragte William und klang nun interessierter.

 »Die Fähigkeiten, sofern sie überhaupt vorhanden sind, können sich auf verschiedene Weise entwickeln …« Sie machte eine Pause und als niemand sprach, fuhr sie fort: »Sie sind zu unterteilen in vier Gruppen, die Kopf-Menschen, Tarro genannt, die besondere Begabungen in Bereichen der Logik entwickeln. Die Körper-Menschen, welche Corpus genannt werden, haben überdurchschnittliche Kräfte und Geschick, was Bewegung, Kampfkunst und Selbstheilung angeht. Dann gibt es noch die Herz-Menschen, Corazon heißen sie, welche für Emotionenkontrolle und Beeinflussung zuständig sind. Und die Magier des Geistes, die Spirito«, beendete sie, als Eric lachend sagte: »Magier? Du sagtest gerade Magier! Aaah, ich verstehe«. Jetzt lachte auch William und sogar Franky stimmte kopfschüttelnd mit den Worten »nicht schon wieder so ein Märchen«, mit ein.

 »Es ist aber kein Märchen«, sagte Nora ernst und setzte zum Überholen eines LKWs an, was den alten Motor laut aufheulen und noch ein wenig lauter klappern ließ. Der kleine Anhänger schlingerte bedrohlich hinter ihnen her.

 »Natüüürlich ist es das nicht. Genauso wenig wie es ein Märchen war, als du mit uns zu den magischen Riesen-Wollmäusen gefahren bist, auf denen man sogar reiten konnte«, sagte William lachend zu seiner Mutter, um sich dann erneut durch seine blonde Mähne zu streichen.

 »Das war übrigens mein sechster Geburtstag«, sagte Eric.

 »Schlimm genug, dass wir deinen Geburtstag auf ’ner zugekackten Weide verbringen mussten und zugeschaut haben, wie du auf ’nem Schaf geritten bist«, lachte Franky und knuffte Eric in seinen Oberarm. »magische Riesen-Wollmäuse, pah.«

 »Mütter werden kreativ, wenn sie pleite sind, und ich erinnere mich, dass wir eine Menge Spaß hatten an dem Tag«, lachte Nora nun auch.

 »Ja, bis Franky von der Wollmaus hinunter, mit seinem Gesicht voran mitten in einen warmen, dampfenden Haufen magischen Schafspups gefallen ist«, grinste William vom Beifahrersitz, wobei er sich einen Klaps auf den Kopf von Franky einfing.

 »Ja, oder unser Umzug in das geheime Land, in dem Schokolade und Bier fließen, auch eine nette Geschichte für Dreizehnjährige«, sagte William zu seiner Mutter.

 »Hey, das war letztes Jahr. Und es hat euch doch auch gefallen in Bremen, oder?«, sagte Nora grinsend zu ihren Jungs. »Außerdem waren nur Franky und Eric dreizehn. Du, mein Lieber, warst bereits vierzehn und hättest es besser wissen müssen.«

 »Dafür weiß ich es heute besser, immerhin werde ich in knapp einem Monat fünfzehn«, sagte William und strich sich erneut durch sein blondes Haar, für das ihn die Mädchen unter anderem so bewunderten.

 »Die Sache mit der Schule und der Geheimwelt war auch ’ne miese Nummer«, sagte Franky und klang dabei wirklich etwas angegriffen.

 »Was war das nochmal?«, fragte Eric begierig.

 »Das war, als Franky immer den Unterricht gestört hatte. Mum hat ihm erzählt, dass es hinter der Wand des Klassenzimmers eine geheime Welt voll magischer Wesen gäbe, wo alles aus Bonbons und Schokolade gebaut sei. Nur die artigsten Schüler dürfen dort hinein. Aber keiner darf darüber sprechen, um diesen Magisches-Land-Besucher-Status nicht zu verlieren«, lachte William.

 »Nicht lustig, du Penner«, grummelte Franky leise und klopfte sich mit einer Faust aufgebracht gegen seinen dicken Bauch.

 »Okay, das war vielleicht ein Fehler«, sagte Nora. »Auch wegen der unangenehmen Sache mit dem Schulpsychologen«, fügte sie hinzu.

 »Was? Das hast du uns nie erzählt!«, platzte es aus William raus.

 »Ich war erst neun, verdammt. Ich war noch ein Kind!«, versuchte sich Franky zu rechtfertigen, während seine Brüder lauthals lachten und ihre Mutter drängten, weiter zu erzählen.

 »Naja, es war nur, weil sie sich Sorgen um Franky gemacht haben. Die Lehrer erwischten ihn immer wieder dabei, wie er nach dem Unterricht seine Ohren an die Wand vom Klassenzimmer gepresst hatte und was von magischen Schokoladenmännchen faselte. Verhaltensauffällige Störung oder so hatten sie es genannt. Dazu kam, dass er im Unterricht plötzlich immer ganz still auf seinem Stuhl gesessen hatte. Anscheinend gelten brave Kinder heutzutage schon als Gestörte«, endete Nora kopfschüttelnd und versuchte gar nicht mehr, ihr Grinsen zu unterdrücken. William und Eric schütteten sich unterdessen so sehr aus vor Lachen, dass sie sogar irgendwann Franky damit anstecken konnten.

 »Aber Jungs, die Sache mit Balderwald ist anders. Diese Stadt ist wirklich so, wie ich sage«, meinte Nora und wurde langsam wieder ernster. »Das müsst ihr mir glauben!«

 »Natüüüüürlich glauben wir dir das«, feixte William. »Na, dann wollen wir uns mal weiter anhören, was du dir Spannendes für diesen Umzug für uns ausgedacht hast. Die Geschichte scheint ja zumindest ausgefeilter zu sein als die anderen, oder Eric, Franky? Was meint ihr?«

 »Magische Fähigkeiten, oder wo waren wir stehengeblieben, Frau Mutter Nora Rüster, Meisterin der schlechten Geschichten?«, lachte Eric.

 »Ja, im Grunde kann man diese Fähigkeiten mit Magie beschreiben … und in der Schule können diese Fähigkeiten erlernt oder perfektioniert werden«, antwortete sie und gab dabei keine weiteren Anzeichen für Ironie.

 »Haha, coooool, wir fahren nach Hogwarts, habt ihr gehört, Leute?«, spottete Franky neben Eric und fügte an: »Dann muss ich mir noch ’ne Eule zulegen. Und Mum, hast du daran gedacht, unsere Umhänge und Zauberkessel einzupacken? So ’n Schwachsinn, echt Mann … Magie. Darauf bin ich vielleicht als Knirps reingefallen, aber ich bin jetzt erwachsen!«

 »Raben«, lachte Nora nun.

 »Was ist los?«, fragte Franky.

 »Sie benutzen Raben für die Überbringung von Nachrichten. Nicht Eulen, Schatz, Raben

 »Frau Nora Rüster, seit wann haben sie denn diese Probleme mit der geistigen Umnachtung, ist es etwas Akutes, tritt es in Schüben auf? Wie würden Sie dies beschreiben?«, äffte Franky einen Arzt mit österreichischem Dialekt nach.

Eric wollte auf das Spielchen der Geschichte eingehen, schließlich war es noch eine lange Autofahrt. Er kam ins Grübeln und fragte: »Aber, wenn es nur Opa hatte, und wenn es erblich ist, dann kann ich sie doch gar nicht haben, diese Fähigkeiten, oder?«

 »Du klingst ja so, als würdest du ihr diesen Mist abkaufen«, höhnte Franky und boxte ihn gegen die Schulter.

 »Hey Franky, mach nicht alles kaputt. Das ist eine wahre Geschichte. Nicht so wie früher«, sagte William mit todernster Miene an seinen Bruder auf der Rückbank gewandt. Als er sich wieder nach vorne drehte, sah Eric sein Grinsen im Rückspiegel.

 »Darüber habe ich auch nachgedacht, Eric«, kam ihm seine Mutter entgegen und ignorierte Frankys Einwand.

 »Da du genetisch nicht mit deinem Großvater verwandt bist, wirst du diese Fähigkeiten auch nicht aufweisen können. Aber mach dir keine Sorgen, in Balderwald leben viele Kinder von Magiern, die diese Fähigkeiten nicht besitzen können, da es ja, wie gesagt, eine Generation überspringt. Es wird dir trotzdem sehr gut gefallen in der Stadt, da bin ich mir sicher. Und in der Schule werden ja auch die normalen Fächer gelehrt, wie überall anders auch.«

Es war zwar wieder nur eine Geschichte, über die sie hier sprachen, aber Eric kam seine eigene wieder in den Sinn, nämlich, dass er als Baby adoptiert wurde, und seine richtigen Eltern nie kennengelernt hatte. Er dachte nicht oft über die Tatsache nach, dass er nicht wirklich mit seinen Brüdern und seiner Mutter verwandt war. Obwohl Franky, William und seine Mutter ganz anders aussahen als er. Eric hatte braune Haare, die im Winter schwarz aussahen und einen dunkleren Teint als seine Familie. Seine Mutter und seine beiden Brüder hingegen waren blond. Zudem hatten seine Mutter und Franky blaue Augen. William war, so musste Eric zugeben, für seine fast fünfzehn Jahre schon ausgesprochen gutaussehend. Mit seinen grünen Augen, betont durch die langen, dunklen Wimpern und dunklen Augenbrauen, den mittellangen Haaren und seiner recht großen, athletischen Statur. Eric bemerkte immer, wie sich die Mädchen auf der Straße nach William umdrehten, tuschelten und zu kichern anfingen.

Franky hingegen war recht klein, obwohl er genau wie Eric nur knapp ein Jahr jünger war als William. Er hatte kurze, stoppelige Haare, ein rundliches Gesicht und war von der Statur her eher massig. Naja, pummelig traf es vielleicht besser. Auf jeden Fall sah Eric ganz anders aus mit seinen bernsteinfarbenen Augen. Darin waren kleine gelbe Punkte, die Hinweise auf einer Landkarte für einen Goldschatz waren, wie seine Mutter ihm früher immer erzählt hatte, eine ihrer wohl schönsten Geschichten, dachte Eric und betrachtete Nora im Rückspiegel.

Egal wie ätzend es war, mit dem wenigen Geld und dem ständigen Umziehen, er war froh, dass sie alle zusammen waren. Hier und jetzt.

William riss ihn aus seinen Gedanken, als er amüsiert fragte: »Und was für Fähigkeiten haben diese Spirituosen-Typen?«

 »Absinth saufen, bis sie sich einreden, magisch zu sein, was sonst? Und dann fliegen sie auf’m Besen ‚rum und quatschen ’ne Runde mit ‘nem Raben«, lachte Franky.

 »Die Spirito haben die Fähigkeit mit Tieren und Bäumen zu kommunizieren. Beziehungsweise lernen sie es. Zudem können sie Gedanken übertragen, Telepathie und diese Dinge eben«, sagte Nora ernst.

 »Na logisch, was sonst!«, entfuhr es Franky. »Wenn man genug Absinth intus hat, dann redet man auch schon mal mit ‘nem Baum und ’n paar Raben.«

So höhnten sie weiter und die Stunden vergingen, während sich der Wagen mit dem kleinen Anhänger stetig weiter landeinwärts bewegte. Auf der Autobahn sahen sie die alten Burgen und kleinen Schlösser in der Ferne, die an längst vergangene Zeiten erinnerten. Eric vertiefte sich in seine Gedanken und stellte sich die Stadt Balderwald vor, mit Magiern, sprechenden Raben, fliegenden Besen und allem, was die Klischees aus seinen Fantasy-Büchern hergaben.

Die Landschaft wurde immer bergiger und der Regen ließ allmählich nach. Sie hatten die Autobahn schon seit einer halben Stunde verlassen, als sie über eine kurvige Straße inmitten von Bäumen fuhren. Die Motorkontrollleuchte blinkte unterdessen fröhlich vor sich hin. Eric konnte sich gar nicht mehr an das Auto ohne dieses Aufflackern erinnern. Seitdem sie die Autobahn verlassen hatten, gesellte sich auch noch die Lampe der Tankanzeige dazu, was Nora jedoch einfach zu ignorieren versuchte. Stattdessen legte sie immer wieder kleine Stopps ein, um auf der Wegbeschreibung, die der Anwalt beigelegt hatte, zu kontrollieren, ob sie noch richtig fuhren. Manchmal stieg sie aus, ging ein paar Meter in den Wald und sah sich dort nach irgendetwas um. Als sie dies das fünfte Mal getan hatte, kam sie nach einigen Augenblicken mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck zurück.

 »Oh Mann, was ist denn jetzt schon wieder? War Mama schon wieder pinkeln? Wie oft denn noch?«, stänkerte Franky und William lachte.

Nora setzte sich zurück in den alten Kombi und sagte: »Ja, irgendwo hier war es, ganz sicher«. Sie nickte und sah ihre Jungs aufmunternd an, dann fuhr sie langsam wieder los.

 »Bereit für das Abenteuer eures Lebens? Es ist zwar schon zwanzig Jahre her als ich zuletzt hier war, aber ich erinnere mich, hier muss irgendwo ein großer Felsen liegen, neben zwei Bäumen. Naja, aber wir haben eine Einladung, also wissen sie, dass wir kommen und die Bäume werden schon Platz machen.« Das letzte sagte sie mehr zu sich selbst, als zu ihren drei Söhnen.

 »Weiß ihre Meise auch, dass wir kommen?«, brummelte Franky leise und schüttelte, zu seiner Mutter blickend, den Kopf. Diese Geschichte war um einiges ausgefeilter, als sie es von ihrer Mutter gewohnt waren, dass musste auch Eric zugeben. Aber Franky war sich wohl gerade nicht mehr so ganz sicher, ob dies noch alles zur Show gehörte, oder ob seine Mutter nun langsam durchdrehte. Zumindest tippte er sich an die Stirn und sah fragend zu seinen Brüdern.

 »Muss ja eine Metropole sein, in die wir fahren. Ich erkenne schon die Wolkenkratzer hinter den riesigen Bäumen«, blödelte William. »Oh Mann, wir landen gleich auf einem Bauernhof voller Hippies, stimmt’s?«, fragte William wehklagend und sprach damit aus, was auch Eric befürchtete.

 »Ah, da vorne, wie ich gesagt habe«, sagte Nora und zeigte auf eine Stelle mit zwei hohen Bäumen und einem gigantischen Stein daneben, auf dessen Spitze ein großer Kolkrabe saß und sie neugierig beäugte. Neben dem Raben, der seltsamerweise nicht fortflatterte, hielten sie an. Nora kurbelte die Scheibe bis nach unten und sagte »Familie Rüster auf Einladung nach Balderwald«, zu dem großen schwarzen Raben. Dieser blickte aufmerksam in den Wagen, wobei Eric das Gefühl hatte, dass ihn der Rabe mit seinem stechenden Blick durchbohrte. Dann nickte der schwarze Vogel, spannte seine breiten Flügel auf und flatterte laut krächzend davon. Mit offenen Mündern starrten ihm Eric, William und Franky nach, während ihre Mutter schmunzelnd wieder den alten Kombi in Bewegung setzte.

Kapitel 2 – Ankunft in Balderwald

Der Wagen bog in den kleinen Weg ein. Sie fuhren einige hundert Meter, bis rechts und links des Weges hohe Felsen aufragten. Die Straße lief jetzt auf einen kurzen Tunnel zu, der direkt durch einen gewaltigen Felsen führte. Neben dem Eingang saß eine Katze, die sie misstrauisch beäugte.

Nora schaltete die Scheinwerfer ein, und fuhr langsam an dem getigerten Wächter vorbei, direkt in das dunkle Maul des Steinriesens. Nach einiger Zeit im stockfinsteren Berg drang ihnen wieder Tageslicht entgegen.

Nachdem sie den Tunnel schließlich passiert hatten, bot sich ein atemberaubender Ausblick. Sie stellten den Wagen ab, stiegen aus und blicken hinab in ein großes Tal, das von dichtem Wald umgeben lag. Die Sonne brach durch die Wolkendecke und warf breite Strahlen orangenen, gelben und weißen Lichts auf die umliegende Landschaft. Im Tal tat sich ihnen eine ganze Stadt auf. Zahlreiche Häuser zierten wie steinerne Tupfer die verwinkelten Gassen und Straßen. Ein großer, schlossähnlicher Gebäudekomplex mit vier hohen Türmen an den Ecken und umgeben von Grünanlagen, stand am linken Stadtrand. Durch die Zinnen auf den Türmen konnte es auch eine Burg sein, dachte Eric staunend. Dahinter lagen bunte Felder, die durch einen Fluss von der Stadt abgetrennt waren. Hier und da konnte Eric kleine Brücken entdecken. Durch die hohen Berge, die das Tal umrandeten, flossen unzählige Flüsse und Bäche, von denen die meisten in einen großen See mündeten, der am Rand der Stadt gleich zu ihrer linken Seite glitzerte und die Sonnenstrahlen reflektierte.

Am hinteren Ende der Stadt waren kleine Schornsteine zu sehen, die Eric an Fabriken erinnerten. Zwischen den Häusern, von denen viele mit Türmen und Zinnen verziert waren, und den zahlreichen Gassen sahen sie überall Bäume, die der Stadt den Eindruck eines großen steinfarbenen, grün gemusterten Flickenteppichs verlieh. Zur rechten Seite der Burg verliefen viele der Gassen sternförmig zu einem Platz. Das muss wohl der Stadtkern sein, dachte Eric, als er neben sich seine Mutter nicken sah.

 »Willkommen in Balderwald. Das große Gebäude da hinten, das wird eure Schule sein«, sagte Nora und lächelte zufrieden, als sie in die perplexen Gesichter ihrer Söhne sah. Dabei zeigte sie auf das riesige, schlossähnliche, quadratische Gebäude. Es hatte vier Ecktürme, zwei große Rundbögen auf jeder Seite und einen riesigen Baum, der im großen Innenhof stand. Majestätisch strahlte er in der Abendsonne.

Eric empfand ein Gefühl von Spannung und gleichzeitig Geborgenheit bei dem Anblick dieser vollkommen unerwarteten Stadt, die sich da vor ihm auftat. Erst jetzt bemerkte er das Krächzen der Raben und Dohlen, die überall zu fliegen schienen. Das Tal strahlte eine große Ruhe und gleichzeitig Erhabenheit aus, es war ein magischer Ort. Ein magischer Ort mitten in Deutschland. Verborgen zwischen Bergen, eingebettet in unzählige Bäume, die wie ein Meer aus grüner Watte wirkten. Das Glitzern der hinabfließenden Bäche und Flussläufe verstärkte das Gefühl in Eric, an einem geheimen, von Elfen und Feen bewohnten Ort gestrandet zu sein, wie es in Geschichten gern beschrieben wird. Ihm war natürlich klar, dass es hier weder Elfen noch Feen noch irgendeine andere Magie gab, aber man wird ja wohl ein bisschen träumen dürfen?

Sie stiegen zurück in den Wagen und fuhren die geschlängelte Straße hinunter in die Stadt. Das Ortsschild war ein großer Felsen, in den der Name Balderwald gemeißelt stand. Auf dem Felsen saßen zwei aus Eisen gefertigte Raben.

Der alte Kombi tuckerte weiter durch die Straßen der Stadt Richtung Osten, bis sie in ihre neue Straße, den Ulmenweg, bogen – eine kleine Allee aus, nun ja, eben aus Ulmen. Sie fuhren auf das Grundstück mit der Hausnummer sechs.

 »Wir sind da, das ist es«, sagte Nora mit Stolz in der Stimme und parkte den Wagen auf dem Kiesweg vor ihrem neuen Zuhause, in dessen Garten große, alte Bäume wuchsen.

Eric blickte hinauf zu der steinernen Villa, die sich über mehrere Etagen erstreckte. Der vordere Teil des Hauses war nach oben hin spitz zulaufend. Der hintere Teil ebenfalls, nur größer als der vordere, sodass er ihn überragte. Rechts befand sich ein runder Anbau mit einem spitz zulaufenden Turm. Auf der linken Seite befand sich ein weiterer Turm, der in einem Balkon endete, welcher an einen dritten Turm anknüpfte. Dieser wiederum überragte das ganze Haus um einige Meter. Durch die vielen Fenster in Form von Rundbögen, die sich in den Türmen und am Haus befanden, wirkte die Villa fast wie ein kleines Schloss. Überall waren kleine Schornsteine zu sehen, die aus dem verwinkelten Dach ragten.

 »Das ist das Haus von Opa Berthold?«, fragte William und sah erstaunt zu dem Haus empor.

 »Ja, das war es. Es ist das Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Ab heute ist es unser neues Zuhause«, sagte Nora und schaute mit ernster Miene ebenfalls hinauf zu der Villa. »Lasst eure Koffer erst einmal im Anhänger, man erwartet uns sicher schon«, fügte sie hinzu und bemühte sich um ein Lächeln.

Eric fühlte sich ein wenig unbehaglich beim Anblick dieses alten, herrschaftlichen grauen Steinpalastes. Sollte dies nun wirklich ihr neues Zuhause sein? Nichts gegen die winzige Wohnung in Bremen oder die anderen vorher: Wer hatte schon was gegen schimmelige Bäder und winzige Küchen mit Klapptisch an der Wand? Eric konnte sich überhaupt nicht mehr an ein eigenes Zimmer für sich allein erinnern, geschweige denn an etwas Ruhe und Privatsphäre. Und jetzt sollten sie in diesem Palast wohnen? Einfach so?

Sie stiegen aus und gingen über den knirschenden Kiesweg auf das Haus zu.

Als sie die Stufen zur Eingangstür emporstiegen, wurde diese geöffnet. Ein Mann in grauem Anzug stellte sich als Herr Mosler vor. Es handelte sich um den Anwalt, von dem Nora die Nachricht bezüglich der Erbschaft inklusive Wegbeschreibung erhalten hatte.

 »Guten Tag Frau Rüster. Und ihr seid dann wohl die drei jungen Rüsters? Ich hoffe, Sie haben gut hergefunden?! Hier habe ich die Hausschlüssel für Sie. Sie kennen sich ja sicher noch gut aus, Frau Rüster. Ihr Vater hat in all den Jahren nur sehr wenig im Haus verändern lassen. Ich verabschiede mich dann auch gleich von Ihnen, damit Sie sich erst einmal ausruhen und richtig ankommen können. Wenn Sie noch Fragen haben oder etwas brauchen, dann haben Sie hier meine Karte. Den Raben-Transmitter finden Sie in der Küche«, sagte Herr Mosler und überreichte Nora seine Visitenkarte.

Während er dies sagte, betraten sie die Eingangshalle des Hauses. Die Wände waren hier aus dunkelrotem Samt und mit Gemälden geschmückt, die zum größten Teil Landschaften und vor allem Bäume zierten. Auf einigen Bildern waren auch Bären oder Raben zu sehen. Der Boden war aus massivem, dunklem Stein mit einem samtigen roten Läufer darauf, der bis zu einer Treppe führte, auf deren Stufen ebenfalls ein weicher Teppich ausgelegt war. Eric blickte eine leicht gewundene Treppe hinauf und bemerkte den Kater zuerst, welcher mit erhobenem Schwanz die Stufen hinunter hopste, sich auf die vorletzte Stufe setzte und miaute, ganz kurz, als wollte er sie allesamt freudig begrüßen, doch dann schaute er grimmig und beobachtete genau, was da vor sich ging in seinem Haus.

 »Oh, hallo Miezimauz«, sagte Franky, worauf hin der Kater noch grimmiger zu ihm aufschaute.

 »Darf ich vorstellen«, sagte Herr Mosler förmlich und zeigte auf den Kater, »Das ist Sir Ortolan. Ich denke, es wäre ihm lieber, wenn sie ihn auch mit diesem, und nur mit diesem Namen ansprechen würden.« Dabei verneigte er sich kurz in Sir Ortolans Richtung.

 »Selbstverständlich, Sir Ortolan, es ist uns eine Freude, nein geradezu eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen«, witzelte Eric und verneigte sich tief vor dem Kater. William und Franky lachten, woraufhin der Kater noch ein wenig feindseliger blickte.

Nachdem Herr Mosler gegangen war, ging die Begutachtung des Hauses los. Eric blieb zuerst im Erdgeschoss, wo er ein großes Wohnzimmer mit angrenzender Bibliothek, ein Arbeitszimmer, ein Speisezimmer mit imposantem Kronleuchter, eine Küche sowie ein kleines Bad vorfand. Irgendetwas Entscheidendes war hier jedoch anders. Aber was? Eric blickte umher und plötzlich fiel ihm auf, dass sich überhaupt keine Holzmöbel in den Räumen befanden. Alles war aus Stein, vor allem aus Marmor gefertigt und zum Teil aus Eisen und Glas. Einige der Wände waren mit Stoffen bespannt, was den steinernen Räumen einen gemütlicheren Eindruck verlieh.

Die Böden waren ebenfalls alle aus Stein. Dicke Teppiche darauf gaben Eric das Gefühl, über einen weichen, moosbedeckten Waldboden zu laufen.

Hinter der Treppe, die nach oben führte, entdeckte Eric eine Tür. Gleich daneben befand sich das kleine Bad und neben diesem die Küche. Eric öffnete die Tür und sah eine steinerne Treppe, die hinunter in die Dunkelheit führte. Er tastete nach dem Lichtschalter und fand einen Drehschalter, klickend ging eine Lampe über der Treppe und eine weitere im Untergeschoss an.

Vorsichtig lief er hinunter und gelangte in einen Weinkeller mit angrenzendem Vorratsraum. Es war kalt hier unten und roch nach Korken, Staub und Konserven. Neugierig machte Eric eine der weiteren Türen auf, die von dem Weinkeller abgingen. Dort fand er eine Abstellkammer, die voll mit Gerümpel stand. Die letzte Tür führte ihn in einen Verschlag, wo Kohle lagerte, die vermutlich für die zahlreichen Öfen im Haus gebraucht wurde. Im Winter musste es herrlich sein, wenn die Wärme der prasselnden Feuer das Haus in ein gemütliches, wohliges Heim verwandeln würde, dachte sich Eric, als plötzlich das Licht ausging.

 Er stand im stockdunklen Kohleraum und fühlte, wie ein eiskalter Schauer über seinen ganzen Körper jagte. Gerade tastete er nach der Tür und schob sich zurück in den Weinkeller, da hielt er inne. Da war etwas, er hatte ein leises Rascheln gehört, da war er ganz sicher. Angst machte sich in ihm breit und kroch durch seine Glieder. Hatte einer seiner Brüder das Licht ausgeschaltet? Sie wussten genau, was er für ein kleiner Angsthase sein konnte. Die Hände zu Fäusten geballt, sammelte Eric seinen ganzen Mut, den er aufbringen konnte. Was hatte er auch sonst für eine Möglichkeit? Für alle Zeiten in dem staubigen, kalten Keller zu bleiben?

Irgendwo rechts musste sich die Treppe befinden, die hinaufführte. Es war kein Licht mehr zu sehen von der Decke, wo er die Tür vermutete, die in das Erdgeschoss führte. Wieder ein Rascheln. Er drehte sich um und merkte, wie etwas sein Bein streifte. Panisch stürzte er auf die Stelle zu, wo die Treppe sein musste und schrie auf vor Schreck. Zwei leuchtende Augen, direkt vor ihm, starrten ihn an. Erics Blut schien in seinen Adern zu gefrieren. Über dem glühenden Augenpaar wurde die Tür aufgerissen und das Licht aus dem Flur strömte hinein.

Wenige Sekunden später ging das Licht im Keller wieder an. Eric stand immer noch da, in seinen Augen die pure Angst und er starrte auf die Treppe, wo sich Sir Ortolan mit erhobenen Schwanz und triumphierendem Grinsen – zumindest sah es für Eric so aus – umdrehte, und die Treppe emporhüpfte, an William vorbei, der dem Kater verdutzt hinterher sah.

 »Was machst denn da unten im Dunklen?«, fragte William etwas verwirrt.

 »Habt ihr das Licht ausgemacht?«, fragte Eric und hörte, wie seine Stimme zitterte.

 »Nö, wieso sollten wir?«, sagte William immer noch verwirrt und Eric glaubte ihm. »Alles gut bei dir, Mann? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«

 »Nee, alles gut. Nur dieser blöde Kater hat mich erschreckt. Seltsames Vieh«, antwortete Eric und lief die Treppen hoch. Seine Knie waren immer noch etwas wackelig. Eigentlich mochte er Katzen. Aber dieser Kater war höchst eigenartig und löste Unbehagen in ihm aus. Auf dem Flur strömte ihm die warme Luft des Sommers entgegen und er war froh, dass er den Keller hinter sich lassen konnte.

 »Was ist denn da unten noch?«

 »Weinkeller, Vorratsraum, Kohlenkeller und so«, sagte Eric und schüttelte sich kurz, als könnte er das ungute Gefühl einfach abwerfen.

 »Dieses Haus ist echt riesig. Warst du schon oben? Der Wahnsinn«, sagte William begeistert mit einem letzten Blick in den Keller. Dann löschte er das Licht und schloss die Tür.

 »Nein, noch nicht. Mach ich jetzt mal.«

Als Eric Richtung Treppe lief, die nach oben führte, sah er seine Mutter in dem Türrahmen rechts vom Hauseingang stehen. Es war die Tür zu dem Arbeitszimmer. Mit seltsam angespannter Haltung betrat sie es. Eric folgte ihr. Nora hatte gerade ein Foto vom Kaminsims genommen und betrachtete es nun mit eisernem Gesichtsausdruck. Eric stellte sich neben sie und sah ebenfalls auf das alte Sepiabild, das in einem angelaufenen silbernen Bilderrahmen eigebettet war. Darauf war ein Mann um die vierzig zu sehen, der neben einer etwa gleichaltrigen Frau saß, die Eric sehr an Nora erinnerte. Die Augen der Frau wirkten traurig, während von dem harten Gesicht des Mannes eine Kühle ausging, die Eric dazu veranlasste, den Arm um seine Mutter zu legen.

 »Ist er das?«, flüsterte Eric.

 »Ja, das war er. Und das daneben ist deine Großmutter.« Ihre Stimme klang seltsam fremd. Sie ließ das Foto sinken und blickte sich in dem Zimmer um. Dann schüttelte sie kurz den Kopf und atmete einmal tief ein, wobei sie die Augen schloss. Mit einer Mischung aus Kälte und Traurigkeit in ihrem Blick stellte sie das Bild zurück auf den Kaminsims und legte kurz darauf ihre Hände auf Erics Schultern, der vor ihr stand und sie musterte. Nora lächelte ihn nun ein wenig gezwungen an und fragte: »Und, Schatz, warst du schon oben und hast dir ein Zimmer ausgesucht?«

 »Nein, das mache ich jetzt mal. Alles in Ordnung bei dir?«

 »Immer, das weißt du doch.«

Eric umarmte seine Mama einmal ganz fest und sie strich ihm über seine Haare, dann sagte sie: »Na los, rauf mit dir, bevor dir deine Brüder das beste Zimmer wegschnappen.«

Daran hatte er gar nicht gedacht. Sie verließen das Arbeitszimmer und Nora schloss die Tür bestimmt hinter sich zu.

Gespannt lief Eric in die oberen Stockwerke und fand dort die Schlafzimmer und Bäder. Einige der Zimmer hatten ihre ganz eigene Farbe, vor denen die Schränke und Kommoden aus Marmor und Stein einen herrlichen Kontrast bildeten. Ein großes Zimmer mit Doppelbett war ganz in Blautönen gehalten, ein anders in Grün. Eines war in zarten Rosatönen mit Blumentapete. Es gab Zimmer, in denen Ordner lagerten oder Gemälde in Hülle und Fülle in Ecken lehnten.

Zwei Räume dienten wohl als Gästezimmer, denn es lagen Handtücher fein säuberlich auf dem Bett gefaltet bereit. Alles war verwinkelt und versteckte Treppen führten in die Türme. In dem kleineren Turm befand sich eine Art Galerie mit Bildern von Wäldern und Wolkentürmen. Eine Staffelei stand vor einem Fenster, direkt daneben Pinsel und Farbtuben. Auf einem Sessel lag ein dickes Kissen. Durch die Menge an Katzenhaaren darauf schloss Eric, dass dies wohl der Platz von Sir Ortolan war.

In dem größeren Turm auf der anderen Seite des Hauses war ganz oben ein kleines Wohnzimmer mit gemütlichen Sesseln, einem Ofen und einem fantastischen Blick über einen Teil der Stadt und die angrenzenden Wälder. Die Sonne stand tief über dem Waldrand und färbte alles, was sie berührte, in ein sattes orangenes Licht. Eine Tür führte auf den Balkon, den man vom Auto aus schon sehen konnte. Ein herrlicher Ort, dachte sich Eric und ließ sich in einen der Sessel fallen.

Kapitel 4 – Belebte Ruinen

»Wir sollten jetzt langsam aufbrechen, es ist schon fast dunkel«, sagte Mona gerade zu der alten Feuerfrau. Die Dunkelheit legte sich bereits über die alten Ruinen.

 »Habt ihr Lampe dabei?«, fragte Liyana besorgt.

 »Hmm, ich glaube nicht. David, hast du vielleicht eine?«, fragte Eric.

 »Nein. Hab’ ich ganz vergessen. Mist.«

 »Ich gebe euch eine Feuerfee mit«, sagte Liyana. Sie holte eine basketballgroße Kugel aus Glas mit einem Seil zum Tragen daran. Sie hatte eine handgroße, runde Öffnung.

 »Wir Feuermagier benutzen wie Lampen. Feuerfeen leben in alle Feuer. Zusammen mit Staub der Lichtelfen halten das Feuer lange am Leben. Wir müssen nur eine hereinlocken.« Sie legte einige Blätter in die Glocke und ließ etwas Pulver aus einem Säckchen hineinrieseln.

 »Staub von Lichtelfen. Ihre Flügel hinterlassen ihn. Das lieben Feuerfeen«, erklärte Liyana. Ihre alten Hände zitterten, während sie die Kugel in das Feuer hielt. Sie begann zu flüstern, wobei sie in die Flammen starrte. Die Flammen veränderten sich. Sie schienen in sich zu erwachen und lebendig zu werden. Kleine Stichflammen stachen hervor. Das Feuer schien sich in Wellen und Kreisen zu bewegen, als würde es atmen. Liyana begann eine leise Melodie zu singen, die von so atemberaubender Schönheit war, dass Eric die Tränen in die Augen schossen. Er kannte nicht die Worte, die Liyana da sang, doch regten sie etwas, das tief in seinem Herzen geschlafen hatte. Eine Wärme breitete sich wie goldenes Licht in Eric aus und gab ihm ein unbeschreibliches Gefühl von Geborgenheit und Sehnsucht. Die Flammen saugten die Melodie auf und bewegten sich nun ganz im Einklang mit ihr. Bis plötzlich – Eric dachte, er habe sich versehen – doch da war es wieder: Flügelschläge, mitten in dem lodernden Feuer! Sie waren leuchtender als die Flammen und wurden immer deutlicher. Bis Eric sie schließlich erkannte: eine Feuerfee! So groß wie seine Handfläche, tanzte sie im Feuer und wog ihr langes, feuriges Haar zu den Klängen der Melodie. Liyanas Hände waren fast in den Flammen, doch hielt sie sie ganz ruhig. Sie schwenkte die Kugel ein wenig auf und ab, während sie sang. Wie in Trance flatterte die kleine Feuerfee in sie hinein und entzündete damit die Blätter. Ein kleines, helles Feuer erstrahlte in der Glasglocke wie ein Zauber aus Licht. Das Lied endete, und Eric spürte, wie es schlagartig kälter wurde.

 »Das Feuer wird einige Stunden leuchten. Dann wird es erlöschen«, erklärte sie den Freunden, die alle mit offenen Mündern zu der Glasglocke starrten, wo noch kleine Flügelschläge zu erahnen waren. Sogar Lady Aristana und Kalle hatten ihre Münder auf und schauten gebannt mit großen Katzenaugen zu der Lichtkugel hinauf. Eric musste bei Kalles Anblick schmunzeln. Wie der Kater so dreinblickte, wirkte es, als wäre er hypnotisiert worden.

 »Was passiert mit der Feuerfee, wenn das Feuer erlischt?«, fragte Mona vorsichtig.

 »Sie stirbt«, sagte Liyana schlicht.

Auf die entsetzten Blicke der Freunde fügte sie hinzu: »Und wird im nächsten Feuer wiedergeboren. Jede Flamme ist die Geburt einer Feuerfee. An der Flamme seht ihr den Charakter der Fee. Ist sie zaghaft und bescheiden, ist die Flamme klein und ruhig. Ist sie unruhig oder auch leidenschaftlich, flackert die Flamme viel und ist groß. Wichtig ist, die Flamme zu beachten. Feuerfeen werden nicht gern ignoriert. Da sind sie Menschen sehr ähnlich.«

 »Sterben sie schneller, wenn man sie ignoriert?«, fragte David.

 »Manche schon. Es gibt aber auch Feuerfeen, die zornig werden. Stichflammen machen, es können große Feuer entstehen, die ganze Häuser abbrennen.«

 »Nur wegen einer ignorierten Fee?«, fragte David verblüfft.

 »Nur? Du solltest nie das schmerzhafte Gefühl unterschätzen, das entsteht, wenn du ignoriert wirst«, sagte Liyana weise.

 »Sie sind wunderschön, diese Feen«, hauchte Mona und sah zärtlich in die Glasglocke, wo die Fee nun wieder deutlicher sichtbar war und sich mit ihren kleinen Händen durch die feurigen Haare strich.

 »Sie mögen es, wenn man ihnen etwas vorsingt. Aber sie leben auch von Magie. Ein Feuermagier kann ein Feuer viel länger brennen lassen, nur indem er da ist und es beachtet. Er muss nur zu der Feuerfee sprechen. Und der Staub der Lichtelfen hilft natürlich auch, den lieben sie so sehr. Dann leben sie länger.«

 »Auch Pflanzen leben länger, wenn man mit ihnen spricht. Das hat uns Professor Elfon beigebracht«, sagte David und nickte, als ob das alles ganz logisch wäre. Für Eric war es ganz und gar nicht logisch, dass ein Feuer länger brannte, wenn man mit ihm sprach. Für ihn war es viel logischer, dass ein Feuer so lange brannte, wie Brennmaterial vorhanden war. Aber bis eben hätte er auch nicht geglaubt, dass es so etwas wie Feuerfeen gäbe, die in Flammen lebten, überlegte er.

 

Die Schatten, welche die hohen Bäume warfen, wurden immer länger. Es würde nicht mehr lange dauern, bis es gänzlich dunkel sein würde. Darum machten sich die Freunde nun zügig auf.

Eric hielt das Seil der Lichtglocke und ging voran.